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Das Einhorn

Lianan träumte. Das muntere Geschwätz der Mädchen in der Spinnstube drang mit einem Mal nur noch schwach an ihre Ohren und ihre Hände und Füße arbeiteten ohne ihren Willen. Niemand bemerkte, daß ihr Geist weit fort war, während sie das Spinnrad trat und ihr die Wolle durch die Finger glitt. Ihr Blick war fest auf die faserige Masse gerichtet, die wie ein Strom aus Schnee durch ihre Finger rann. Aber dieser Schnee war warm und nicht so kalt wie der Schnee, der bald vom Himmel fallen und die Erde bedecken würde.
Warum nannte man die Schneezeit die Zeit des Einhorns? Immer wieder tauchte diese Frage in ihrem Geist auf, in jedem Jahr ihres langen Lebens. Doch eine Antwort darauf hatte sie noch nicht gefunden. Es gab nichts, was die Schneezeit mit einem Einhorn gemein hatte! Nicht einmal die Farbe. Zwar sagte man, das Fell eines Einhorns habe die Farbe des fallenden Schnees, doch das stimmte nicht. Lianan wußte das, denn sie hatte ein Einhorn gesehen. Seitdem war kein Tag verstrichen, an dem sie nicht an das Geschöpf und an seine Schönheit gedacht und sich nach ihm gesehnt hatte.

Lange war es schon her, sehr lange! Mehr als vierzig Schneezeiten war seitdem über das Land gekommen. Und doch erinnerte sie sich an das Einhorn, wie es plötzlich, aus dem Nichts kommend, vor ihr gestanden und sie mit Vorwurf in den samtig schwarzen Augen angesehen hatte. Es war so nah gewesen, daß sie die Wärme seines Körpers hatte fühlen können und sein Fell war so hell gewesen, daß es ihren Augen wehtat und sie sich abwenden mußte.
"Lianan, der Faden ist schon wieder gerissen!" beschwerte sich eine verzweifelte Jungmädchenstimme neben ihr. Lianan kehrte aus ihren Träumen in die Wärme und den Wollgeruch der Spinnstube zurück. "Ein Kobold muß in dem Rad sitzen und den Faden ständig zerreißen", klagte das Mädchen. "Er hat seine Freude daran, mich zu ärgern!"
Lianan lachte freundlich und unterbrach ihre Arbeit. "Laß uns sehen, Ria, ob wir den Kobold nicht austreiben können", sagte sie. Ria rückte bereitwillig zur Seite, um der alten Frau ihren Platz am Rad zu überlassen. Lianan lächelte. "Der Name des Kobolds lautet Bremse", sagte sie. "Dein Rad dreht sich zu schnell." Sie behob den Fehler und spann den Faden neu an. Dann reichte sie Ria wieder die Wolle. "Danke, Lianan", sagte das Mädchen.
Die Frau kehrte an ihr eigenes Spinnrad zurück. Gedankenverloren nahm sie wieder ihre Arbeit auf. Abermals dachte sie an den Tag vor langen Jahren, als sie das Einhorn gesehen hatte. Sie hatte noch nie davon gesprochen, es hätte ihr auch niemand geglaubt. Zwar hatten die Leute im Dorf gemerkt, daß sie sich verändert hatte, doch niemand ahnte, wie sehr.

Damals war sie ohne jede Hoffnung in den Wald gerannt, auf der Flucht vor einem unerträglichen Leben, daß ihr der Mann bot, der sie besitzergreifend meine Frau nannte. Sie hatte ihn nie geliebt. Ihre Eltern hatten jedoch auf dieser Ehe bestanden, weil er sie in Schande gestürzt hatte. Doch das Kind, um dessentwillen sie in diese Verbindung eingewilligt hatte, starb bereits vor der Geburt. Seither hatte sie nicht mehr empfangen und ihr Mann dankte es ihr mit Schlägen.
O ja, damals war sie mit dem Entschluß zu sterben in den Wald gegangen. Doch dann war das Einhorn gekommen - und sie hatte es nicht mehr fertig bringen können. Statt dessen war sie zu ihrem verhaßten Leben zurückgekehrt. Sie hatte aus dieser Begegnung die Kraft gewonnen, ihr Leben durchzustehen. Die Hoffnung, eines Tages diese vollkommene Schönheit wiederzusehen, ließ sie alle Widrigkeiten beinahe heiter hinnehmen. Es schien nichts mehr zu geben, was diese neue Helle in ihrem Herzen trüben konnte.

Durch das monotone Summen des Spinnrades glaubte sie plötzlich eine leise Stimme zu hören, die ihren Namen rief: "Lianan!" Sie legte den Kopf zur Seite und lauschte. Jetzt war sie sich ganz sicher. Jemand rief sie! Die Stimme kam von draußen. Sie hielt das Rad an und ging vor die Tür. Angestrengt spähte sie hinaus in die Dunkelheit. Es hatte zu schneien begonnen. Weiße Flocken tanzten herab, leuchteten im Licht, das durch die Fenster fiel, auf und fügten sich auf dem Boden zu einer dünnen Decke.
Zuerst sah sie nichts außer dem fallenden Schnee, der sich lautlos auf die Erde senkte. Es schien ihr, als sauge der Neuschnee jedes Geräusch in sich auf. "Lianan!" Die alte Frau trat in den Schnee hinaus. "Wer ruft?" Sie zog zitternd ihren Wollschal um Kopf und Schultern. Die Nacht war empfindlich kühl. Wieder rief sie die Stimme. Diesmal glaubte Lianan, eine Bewegung im Schnee zu sehen. "Wer ist da?"
"Komm", lockte die Stimme. Noch immer lauschend und spähend ging Lianan weiter. Die Helligkeit der Spinnstube blieb hinter ihr zurück und verlor sich allmählich. Dunkelheit hielt sie nun umfangen und der lautlos fallende Schnee. Sie blickte sich mit heftig pochendem Herzen suchend um. Neben sich konnte sie die Korbflechterei erkennen. Sie war am Rande des Dorfes angekommen. Sonst sah sie nichts. Noch einmal drehte sie sich um und versuchte mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen - nichts.

Doch da entdeckte sie jenseits der Korbflechterei eine Stelle, an der die Flocken dichter fielen. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Die Schneeflocken wirbelten immer dichter umeinander, bis sie einen großen Körper zu formen schienen. Das weiße Schemen, unklar an den Rändern, näherte sich langsam und lautlos. Lianan vermochte nicht, sich zu rühren. Sie konnte nur stehen und staunen.
Im Näherkommen zeichnete sich ein langer Pferdekopf in dem Schneegestöber ab. Nach und nach konnte sie auch den schlanken, anmutig gebogenen Hals und den großen, von schlanken Beinen getragenen Körper erkennen. Lianan gab einen leisen, entzückten Laut von sich. Das Wesen schien ihrer Erinnerung entsprungen zu sein. Mit jedem Schritt leuchtete sein weißes Fell heller und drängte den Schnee zurück. Hoch auf der Stirn schimmerte das lange, spitze Horn, durchscheinend, opalisierend, und teilte den Schopf in zwei seidige Schleier, die über die tintenschwarzen Augen fielen. Die Mähne umwallte den gebogenen Hals wie eine Sommerwolke. Mit jeder Bewegung flossen Wellen hindurch und zersprühten an den Enden. Der Schweif war wie ein milchiger Nebel, der Schneeflocken in die Spur seiner gespaltenen Hufe streute. Vor der Frau blieb das Einhorn stehen.

Lianan vergaß, zu atmen. Sie vergaß alles, als sie in die verhangenen, unglaublichen Augen blickte. Zögernd, wie schlafwandlerisch, streckte sie die Hand aus und berührte die fliegenden Haare der Mähne. Sie knisterte und sprühte unter der Bewegung. Das Einhorn neigte den Kopf auf ihre Schulter. Sie fühlte den warmen Atem des Geschöpfes an ihrem Ohr und fühlte das daunenweiche Maul an ihrer Wange. "Komm, Lianan", sagte das Einhorn. "Wir gehen zusammen fort. Steige auf meinen Rücken." Es kam Lianan nicht in den Sinn, Einwände zu erheben. Sie hauchte: "Ja!" und legte ihre Händen auf den warmen, glatten Rücken des Einhorns. Mühelos schwang sie sich hinauf, als gäbe es die Last ihrer vielen Jahre nicht. Es kam ihr vor, als habe sie sie wie ein überflüssiges, lästiges Gewicht abgestreift.
"Hoffentlich habe ich dir nicht wehgetan", erkundigte sie sich besorgt, denn sie hatte nie zuvor auf dem Rücken eines Tieres gesessen. "Nein, du bist leicht wie eine Feder, Lianan." Behutsam setzte sich das Geschöpf in Bewegung. "Wohin bringst du mich?" fragte Lianan. "Weit fort. Habe keine Furcht." "Wann werden wir zurück sein?" Das Einhorn wandte den Kopf, so daß das opalisierende Horn aufblinkte. Es schaute Lianan mit seinen dunklen, verhangenen Augen sanft an. "Wir kehren nicht zurück, Lianan." "Das macht nichts", erwiderte die Frau. "Ich habe so lange auf dich gewartet", setzte sie leise hinzu. "Jetzt bin ich da", sagte das Einhorn. Es begann schneller zu laufen. Seine wehende Mähne hüllte seine Reiterin ein.

Etwas später verließ Ria die Spinnstube, um nach der alten Frau zu sehen. Sie folgte ihren halb verschneiten Spuren, immer wieder ihren Namen rufend. Am Rande des Dorfes, hinter der Korbflechterei, fand sie schließlich ihren zusammengesunkenen, leblosen Körper, über den der Schnee ein dünnes Leichentuch gebreitet hatte. Daneben glaubte sie, den unklaren Abdruck eines gespaltenen Hufs zu erkennen.

©Beate Sass

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