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Das Letzte Einhorn - Semesterarbeit

Hallo Deliah!

Es freut mich, daß Du Dich für meine Seminararbeit interessierst.
Ich bin gerade bei Stephan zu Besuch, und er hat mir Deine Mail gezeigt.

Aber zur Sache: Bevor Du meine Einhorn-Seminararbeit liest, möchte ich gerne noch ein paar Worte dazu verlieren, damit Du weißt, woran Du bist.
Also: Ich studiere englische und deutsche Literatur . Die Einhorn-Arbeit war meine Abschlußarbeit für ein Seminar über Weiblichkeitsmythen, das ich im ersten Semester belegt hatte. Naja, was soll ich sagen; im ersten Semester hat man halt noch nicht so viel Ahnung wie nach vier Semestern, und deshalb weiß ich heute, nicht zuletzt aufgrund von Gesprächen mit meiner hervorragenden Dozentin, daß ich als kleiner Erstsemester bei dieser ersten Seminararbeit noch eine Menge falsch gemacht habe. Der gravierendste Fehler ist, daß ich dachte, ich hätte für Peter Beagles Geschichte DAS LETZTE EINHORN die eine und einzige Interpretation gefunden. Sieht man die Erzählung jedoch als Mythos im literaturwissenschaftlichen Sinne, dann ist genau dieser Ansatz, wie ich ihn in der Arbeit verfolgt habe, grundfalsch, denn ein Mythos ist eine sinnstiftende Erzählung, die sich mit Aporien, also unlösbaren existentiellen Problemen der Menschheit, beschäftigt, und zwar unter Verwendung eines Symbolsystems, das nicht reflektiert wird und somit die behandelten Aporien nicht löst, sondern unbefragbar macht. Das heißt alles in allem, daß es in der Natur des Mythos selbst liegt, daß man nicht "den Code knacken" und auf eine konkrete Bedeutung festlegen kann. Genau das habe ich aber in meiner Arbeit versucht - Ansatz gut, setzen.
Das soll nicht heißen, daß meine Interpretation falsch ist, es heißt aber auf alle Fälle, daß es nicht die einzige Interpretation ist . Gut, das wollte ich nur noch loswerden, bevor Du mein Werk zu lesen bekommst.

Ich hoffe, meine Hausarbeit hilft Dir trotz der genannten Mängel weiter
- ich wünsche Dir viel Spaß damit! Viel Erfolg noch mit der Einhorn-Seite!

Markus

Inhalt:

Einleitung

Nach erstmaligem Rezipieren der Erzählung "Das letzte Einhorn" bleibt beim Rezipienten der Eindruck zurück, daß mehr dahintersteckt, daß die Erzählung eine versteckte Bedeutung haben könnte. Dieser Eindruck erinnert an die im Proseminar erarbeiteten, einen Mythos konstituierenden Faktoren, nach welchen ein Mythos neben einer Oberflächen- auch eine Tiefenstruktur besitzt. Doch bei näherer Betrachtung scheint das Etikett "Mythos" auch nicht auf die Erzählung zu passen. Um der Beantwortung der Fragestellung näherzukommen, wird im folgenden die Handlung der Erzählung "Das letzte Einhorn" von Peter Beagle auf mögliche Tiefenstrukturen unter der oberflächlichen Handlungsebene untersucht. Zur übersichtlicheren Gliederung ist dieser Vorgang nach den für diese Strukturen relevantesten Figuren der Erzählung aufgeteilt. Im Anschluß an diese Untersuchungen findet sich ein Fazit, welches sich um die Beantwortung der Fragestellung bemüht.

zur Inhaltsangabe

Das Einhorn

Das Einhorn wird als ein außerhalb der Zeit lebendes, unsterbliches Wesen beschrieben, das nur entfernt Ähnlichkeit mit einem weißen Pferd aufweist. Es lebt in seinem Wald, hütet die darin lebenden Tiere und schaut zu, wie Generationen um Generationen dieser Tiere kommen und gehen. Das Einhorn selbst ist kein Tier; es wird zwar als in der Natur lebend und eng mit der Natur verbunden beschrieben, muß aber nicht jagen und fressen, und gerade weil es so anders ist, wird es nicht müde, den Tieren seines Waldes bei ihren "sterblichen" Tätigkeiten zuzusehen. Die vergehende Zeit nimmt das Einhorn anscheinend nur sehr unbewußt wahr, da diese für es keine Bedeutung hat. Es ist "sehr alt, ohne etwas davon zu wissen" ( S. 17), was darauf hindeutet, daß "unsterblich" hier vielleicht ein zu ungenauer Ausdruck ist, sondern, treffender bezeichnet, das Einhorn eher außerhalb der Zeit existiert. Ab und an vollbringt es anscheinend auch gute Taten mithilfe seines Hornes, zum Beispiel hat es "einen König geheilt, dessen vergiftete Wunde sich nicht schließen wollte" ( S. 17 ). Weiterhin erfährt der Leser, daß Einhörner Einzelgänger sind und demzufolge nur selten Nachkommen zeugen. In der Tat heißt es an anderer Stelle, es sei dem Einhorn Gesellschaft genug zu wissen, daß es irgendwo noch andere seiner Art gibt. Eitelkeit ist ein weiteres Charaktermerkmal der Einhörner, der Wald, in dem sie leben, besitzt für gewöhnlich einen klaren Teich, in dem sie sich spiegeln können, "wohl wissend, daß sie auf der ganzen Welt die schönsten Geschöpfe sind" ( S. 17 ):

Das Einhorn lebte in einem Fliederwald, und es lebte ganz allein. Es war sehr alt, ohne etwas davon zu wissen, und es hatte nicht mehr die flüchtige Farbe von Meerschaum, sondern eher die von Schnee in einer mondhellen Nacht. Seine Augen aber waren frisch und klar, und noch immer bewegte es sich wie ein Schatten über dem Meer. Es hatte keine Ähnlichkeit mit einem gehörnten Pferd, wie Einhörner gewöhnlich dargestellt werden; es war kleiner und hatte gespaltene Hufe und besaß jene ungezähmte, uralte Anmut, die sich bei Rehen nur in schüchterner Nachahmung findet und bei Ziegen in tanzendem Possenspiel. Sein Hals war lang und schlank, wodurch sein Kopf kleiner aussah, als er in Wirklichkeit war, und die Mähne, die fast bis zur Mitte des Rückens floß, war so weich wie Löwenzahnflaum und so fein wie Federwolken. Das Einhorn hatte spitze Ohren und dünne Beine und an den Fesseln Gefieder aus weißem Haar. Das lange Horn über seinen Augen leuchtete selbst in tiefster Mitternacht muschelfarben und milchig. Es hatte Drachen mit diesem Horn getötet und einen König geheilt, dessen vergiftete Wunde sich nicht schließen wollte, und für Bärenjunge reife Kastanien heruntergeschüttelt. Einhörner sind unsterblich. Es ist ihre Art, allein an einem Ort zu leben, gewöhnlich einem in Wald, in dem es einen klaren Teich gibt, worin sie sich spiegeln können; sie sind nämlich ein wenig eitel, wohl wissend, daß sie auf der ganzen Welt die schönsten Geschöpfe sind, und zauberische obendrein. Sie haben nur selten Junge, und keine Stelle ist so wundervoll wie die, an der ein Einhorn geboren ward. Viel Zeit war verflossen, seitdem es ein anderes Einhorn gesehen hatte; und damals hatten die jungen Einhörner, die hin und wieder zu Besuch kamen, eine andere Sprache gesprochen, die ihm fremd war. Doch eigentlich konnte es sich Monate, Jahre und Jahrhunderte gar nicht vorstellen, nicht einmal Jahreszeiten. In seinem Wald war immer Frühling, weil es dort lebte. Den ganzen Tag wandelte es unter den großen Buchen umher und hütete die Tiere, die in Nestern und Höhlen, in Büschen und Bäumen hausten. Geschlecht auf Geschlecht jagten und liebten sie, hatten Kinder und starben, Wölfe wie Hasen; und weil das Einhorn nichts von all dem tat, ward es nie müde, ihnen dabei zuzuschauen.

Von der Tatsache, daß es von vielen Menschen im Laufe der Erzählung als Stute wahrgenommen wird, ist das Einhorn entsetzt - einerseits, weil es, wie schon erwähnt, eitel ist, andererseits, weil die Menschen offenbar den Glauben an die Einhörner, an das Magische, verloren haben:

"Brrrh, bleib doch stehen!" Der Mann hatte ein schwitzendes, verschmiertes Gesicht und war außer Atem. "Hübsche", keuchte er, "hübsche kleine Stute!" "Stute?" Das Einhorn stieß das Wort so schrill hervor, daß der Mann seine Verfolgung aufgab und sich die Ohren zuhielt. "Stute!" rief das Einhorn. "Ein Pferd soll ich sein? Seh' ich so aus? Glaubst du wirklich?" [...]
"Wie kann das sein?" fragte es sich. "Ich könnte ja noch verstehen, daß die Menschen uns Einhörner vergessen haben und uns jetzt hassen und jedes Einhorn töten wollen, das sie sehen. Aber sie erkennen mich ja nicht einmal, sie sehen mich an und sehen etwas ganz anderes! Wie mögen sie da erst für einander aussehen? Wie sehen da wohl Bäume in ihren Augen aus , oder Häuser, oder wirkliche Pferde, und wie ihre Kinder?"

Nicht viele Dinge machen dem Einhorn Angst, wie zu Beginn der Erzählung erwähnt, hat es mit seinem Horn sogar einen Drachen besiegt. Auch Mammy Fortunas gefährliche Harpyie fürchtet es nur bedingt, da es in dieser ein Fabelwesen wie es selbst erkennt. Was dem Einhorn allerdings schrecklich erscheint, ist die Vergänglichkeit, das Alter, die Sterblichkeit. Gerade weil das Einhorn unberührt von der Zeit existiert, gerät es angesichts der Sterblichkeit in Entsetzen, veranschaulicht in der Szene in Mammy Fortunas Mitternachtsmenagerie, in der diese vorgibt, Eli, das Alter, zu sein. Obwohl lediglich eine Illusion, reicht die gebotene Darstellung des Vergänglichen, um das Einhorn mehr zu verängstigen als selbst die Harpyie oder ein Drache das könnte.

Das Einhorn erklärt Schmendrick, es sei unfähig, Mitleid zu empfinden, könne jedoch trauern, was nicht dasselbe sei. Offenbar ist hier gemeint, daß das Einhorn zwar um sich selbst, aber nicht um andere trauert, wenn man Mitleid als Trauer um den Zustand anderer definiert. Zudem ist es unfähig, "kaltes Eisen", womit vermutlich Stahl gemeint ist, zu berühren, ohne Schmerzen zu empfinden, und so kann Mammy Fortuna es in einem Käfig aus Stahlstreben gefangenhalten. Da Stahl in der Natur nicht vorkommt, widerspricht er offenbar dem naturverbundenen Wesen des Einhorns als ein künstliches, von Menschen geschaffenes Produkt. Auf der Reise mit Schmendrick scheint das Einhorn sich immer der jeweiligen Umgebung anzupassen ( "Ein grauer Morgenregen rieselte herab, und das Einhorn leuchtete in ihm wie ein Delphin."; S. 63 ), zudem erwähnt das Einhorn, es könne trotz Zauberkraft aus Schmendrick nichts anderes machen, als dieser sei; es könne ihn nicht zu einem wahren Zauberer machen. All diese Faktoren deuten auf die Naturverbundenheit des Einhorns hin; es wird deutlich, wie das Wesen des Einhorns beschaffen ist und daß das Künstliche in jeder Form diesem Wesen widerspricht. Menschen gegenüber verhält das Einhorn sich vorsichtig:

Der Anblick von Menschen erfüllte es mit einer uralten und ahnungsvollen Mischung aus Zorn und Zärtlichkeit. Wenn es irgendwie vermeidbar war, zeigte es sich den Menschen nicht, aber es bereitete ihm Freude, sie vorüberreiten zu sehen und sprechen zu hören.

Ihr Anblick erfüllt es "mit einer uralten und ahnungsvollen Mischung aus Zorn und Zärtlichkeit" ( S. 18 ). Nun stellt sich die Frage, warum das so ist. Betrachtet man die hier aufgeführten Wesensmerkmale und Eigenschaften des Einhorns, so fällt auf, daß es sich, wie schon gesagt, der Natur mit ihren Tieren sehr verbunden fühlt. Folglich müssen die Menschen sich auf eine Art und Weise von den übrigen Lebewesen ( den Tieren und Pflanzen ) und dem Einhorn selbst abheben. Es muß einen Faktor geben, welchen lediglich die Menschen besitzen und welcher dem Einhorn das in der soeben zitierten Textstelle beschriebene Gefühl vermittelt. Dies ist vergleichbar mit der Darstellung der Protagonistin in Fouqués "Undine", in welcher ein naturverbundenes Wesen der Geisterwelt in menschlicher Gestalt durch die Liebe eines Menschen eine Seele erhält. Wie zuvor erwähnt, ist das Einhorn unfähig, Mitleid zu empfinden. Auch in Fouqués Erzählung ist Mitleid eine zentrale Eigenschaft oder ein zentrales Merkmal einer Seele. Auch Fouqués Undine war vor Erhalt dieser rücksichtslos gegenüber ihrer Umwelt und ein "Naturkind", Eigenschaften, welche mit Erhalt der Seele verschwanden. Im Unterschied zu Fouqué erwähnt Beagle allerdings nie explizit, daß dies der Faktor ist, welcher das übernatürliche Wesen vom Menschen unterscheidet; Beagle sagt nie ausdrücklich, daß das Einhorn keine Seele besitzt, er benennt die betreffende Eigenschaft nicht, welche das Einhorn von den Menschen unterscheidet. Das Wesen des Einhorns wird jedoch zum Wesen vieler menschlicher Figuren der Erzählung als Gegensatz verwendet. Dies geschieht besonders dann, wenn das Einhorn auf Täuschung und Künstlichkeit trifft, wie z.B. in Mammy Fortunas Mitternachtsmenagerie. Das Einhorn als Wesen ohne Seele ist naturverbunden, also ist die Fähigkeit zur Täuschung ein Attribut der beseelten Wesen. Das Einhorn hingegen, obwohl ein magisches Wesen, ist nicht fähig, Schmendrick zu einem wahren Zauberer zu machen, weil dieser keiner ist, es ist der Täuschung nicht fähig.
Im Laufe der Handlung erlangt das Einhorn menschliche Gestalt. Entsetzt über den sterblichen Körper, welchen es um sich herum altern und verfallen fühlt, ist das Einhorn jedoch im innersten Wesen immer noch Einhorn. Es erinnert sich nach wie vor an das vorangegangene Geschehen, es besitzt noch magische Kräfte, wie die Szene der Begegnung mit König Haggards Zauberer deutlich macht, es denkt und fühlt noch als Einhorn. Lediglich die äußere Gestalt des Einhorns ist eine andere, die Verwandlung bezieht sich nicht auf sein Wesen. Zunächst verlangt es denn auch die sofortige Rückverwandlung, sieht jedoch ein, daß die neue Gestalt notwendig ist, um den roten Stier zu täuschen und König Haggard gegenüberzutreten. Außerdem gesteht Schmendrick, er sei gar nicht fähig, es zurückzuverwandeln, eine zunächst vielleicht absonderlich anmutende Bemerkung, da er ihm ja kurz zuvor auch die menschliche Gestalt verlieh. Um diese Bemerkung zu verstehen, ist es notwendig, Schmendricks Verständnis vom Wesen des Einhorns zu betrachten. Der Zauberer ist der Meinung, er und Molly und alle anderen Personen befänden sich in einem Märchen, das Einhorn jedoch nicht. Er sieht also sich selbst und Molly als Figuren einer Geschichte, bezeichnet das Einhorn jedoch als "Wirklichkeit" ( "Haggard und Lir und Drinn, du und ich, wir befinden uns mitten in einem Märchen und müssen gehen, wohin es führt. Das Einhorn aber ist Wirklichkeit. Es ist Wirklichkeit."; S.126 ). Da Schmendrick das Wissen besitzt, sich in einem Märchen zu befinden, weiß er auch, daß er dem Einhorn nicht einfach kurz nach der Verwandlung in ein Menschenmädchen wieder die ursprüngliche Gestalt zurückgeben kann - weil er weiß, daß Märchen nicht so funktionieren. Schmendrick weiß, daß in Märchen Verwandlungen immer einen Zweck verfolgen, daß Märchen einen schlüssigen Handlungsablauf besitzen. In einem Märchen wird niemals einem Einhorn mal eben schnell menschliche Gestalt verliehen und das Ganze dann wegen Nichtgefallen sofort wieder rückgängig gemacht - erst muß etwas geschehen, was diese Verwandlung plausibel macht, oder, anders ausgedrückt, die Verwandlung muß ein sinnvolles Element der Handlung sein. Da Schmendrick diese Dinge über Märchen weiß und glaubt, sich selbst in einem Märchen zu befinden, weiß er auch, daß die Struktur eines solchen Märchens eine sofortige Zurückverwandlung des Einhorns nicht zuließe, da die neue Gestalt des Einhorns zunächst für die Erzählung relevant werden muß, bevor von Zurückverwandlung die Rede sein kann:

Der Zauberer lächelte erschöpft. "Du wirst es schon noch verstehen. Du bist jetzt zusammen mit uns in dieser Geschichte und mußt ihr folgen, ob du willst oder nicht. Wenn du deine Gefährten finden willst, wenn du wieder ein Einhorn werden möchtest, dann mußt du den Märchen zu König Haggards Schloß folgen, mußt ihm folgen, wohin auch immer es dich führt. Ohne eine Prinzessin kann diese Geschichte nicht enden." [...] Schmendrick lächelte immer noch, doch Molly Grue sagte: "Gib ihm seine alte Gestalt zurück. Du hast gesagt, du könntest es. Laß uns nach Hause gehen!" "Das steht nicht in meiner Macht", erwiderte er. "Ich habe gesagt, daß der Zauber nicht unter meinem Befehl steht, noch nicht. Deshalb muß auch ich weiterziehen zum Schloß, ins Glück oder Unglück, das mich dort erwartet. Versuchte ich, die Verwandlung jetzt rückgängig zu machen, könnte ich es wirklich in ein Nashorn verwandeln. Das wäre noch das Beste, was aber das Schlimmste anbetrifft...", er schauderte und verstummte.

Diese Überlegung geht mit einigen Überlegungen aus dem Aufsatz "Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos" von Fritz Stolz konform, welchem zufolge ein Mythos eine Tiefenstruktur besitzt, bestehend "in einer irreversiblen Anreihung von Bedeutungsträgern, welche einen Vorgang konstituieren. [...] Ein Mythos beinhaltet einen Vorgang, welcher von einem Anfang auf einen Schluß zuläuft. Der Vorgang ist nicht umkehrbar; die Veränderungen haben eine eindeutige Richtung: Der Mythos beinhaltet eine Transformation von der Labilität zur Stabilität. Dem stabilen Schluß kommt eine gewisse Gültigkeit zu; er macht vorhergehende Situationen ungültig." ( S. 83/ 84) . Bezieht man diese Überlegungen auf Schmendricks Aussage, er könne dem Einhorn nicht gleich wieder die ursprüngliche Gestalt verleihen und bedenkt man, daß er sich bewußt ist darüber, sich in einem Märchen zu befinden, erhält seine zunächst befremdlich anmutende Aussage Sinn.

Das Einhorn in Menschengestalt ist indes der Ansicht, Schmendricks Märchen habe keine Macht über es, doch Schmendrick, welcher vor der Verwandlung genauso dachte und das Einhorn als "Wirklichkeit", als außerhalb der Erzählung stehend betrachtete, ist nun der Meinung, das Einhorn müsse nun ebenso wie alle anderen Figuren der Erzählung dem Märchen folgen. Warum war das Einhorn vor der Verwandlung kein Teil des Märchens, danach aber schon ? Um dies zu beantworten, muß man die Frage stellen, was sich im Gegensatz zum Zustand vor der Verwandlung geändert hat. Wie schon erwähnt, fühlt und denkt das Einhorn zunächst noch als solches - der entscheidende Faktor muß also die Verwandlung sein. Daraus folgt, daß entweder die Verwandelbarkeit an sich oder aber der sterbliche Körper das Kriterium ist, welches das Einhorn zur Teilnahme an dem Märchen zwingt; auf den genauen Grund gibt es im Text keine expliziten Hinweise. Führt man diesen Gedanken weiter, so läßt sich schließen, daß in Schmendricks Verständnis das Wandelbare oder aber das Sterbliche ein Gegenpol zur Wirklichkeit darstellt, da er das Einhorn vor der Verwandlung als außerhalb, nach der Verwandlung in ein Menschenmädchen als innerhalb des Märchens stehend ansieht. Das Sterbliche würde bei Beagle vielleicht aufgrund seiner Vergänglichkeit zum "Märchen", würde unwirklich, da es nicht von Bestand ist. Das Unsterbliche aber wird aufgrund seiner ewigen Beständigkeit zur Wirklichkeit. Folglich müßte das Einhorn nach der Transformation in einen sterblichen Körper Teil des Märchens sein, die Verwandlung vom Unsterblichen hin zum Sterblichen ist eine Transformation vom Wirklichen zum "Unwirklichen". Dafür lassen sich jedoch im Text selbst keine expliziten Belege finden. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit wäre, daß das Körperliche das Einhorn zur Teilnahme am Märchen zwingt, welches es, den Beschreibungen nach zu urteilen, vor der Verwandlung nicht besessen hat (das Einhorn gleicht immer der Umgebung usw.).

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Lady Amalthea

Das Einhorn in Menschengestalt und unter dem Namen "Lady Amalthea" verliebt sich im weiteren Verlauf der Handlung in einen Sterblichen, nämlich in den Prinzen Lir. Vorher noch als Einhorn denkend und fühlend, beginnt Lady Amalthea nun zu vergessen, daß sie einmal ein unsterbliches Einhorn und auf der Suche nach den verschwundenen Artgenossen war. Was Schmendrick mit seiner Zauberkraft unmöglich war, gelingt Prinz Lir ( wenn auch eher unbewußt und als "Begleiterscheinung" der Liebe ): Das Wesen des Einhorns verwandelt sich in das Wesen eines Menschen. Schmendrick ist lediglich dazu fähig, dem Einhorn eine andere Gestalt zu verleihen, es in einen sterblichen Körper zu versetzen. Im Innern ist es jedoch kein Mensch, sondern immer noch ein Einhorn. Durch die Liebe eines Sterblichen jedoch wandelt sich das Wesen des Einhorns zu dem Wesen eines Menschen, wobei ihm die eigene Vergangenheit als unsterbliches Einhorn und die damit verbundenen Eigenschaften verlorengehen:

Doch die Lady Amalthea und Prinz Lir wandelten und sprachen und sangen so glückselig, als hätte sich König Haggards Schloß in einen grünen Wald verwandelt, blühend und schattend vor Lenz. [...] Er erzählte ihr, was er nur wußte, vertraute ihr an, was er über die Welt und über die Liebe dachte, ersann ein gemeinsames glückliches Leben für sie beide; und sie half ihm dabei, indem sie ihm lauschte. Sie spielte ihm nichts vor, denn sie konnte sich an nichts erinnern, was vor ihm und Haggards Schloß gewesen war. Ihr Leben begann und endete mit Prinz Lir - außer in den Träumen, und die verblaßten bald, wie Lir es vorhergesagt.

Was, wenn nicht die äußere Gestalt, ist also der entscheidende Faktor, welcher einen Menschen ausmacht ? Wie zuvor festgestellt, besitzt das Einhorn einen entscheidenden Faktor nicht, dessen Fehlen es von den Menschen unterscheidet. In Fouqués "Undine" erhält das übernatürliche Wasserwesen Undine durch die Liebe zu einem sterblichen Ritter eine Seele. Etwas Vergleichbares geschieht meiner Ansicht nach auch in Beagles Erzählung, auch wenn dies nie ausdrücklich zu lesen ist. Das Einhorn erhält jedoch durch die Liebe zu Prinz Lir die in der Erzählung für Menschen zentrale Eigenschaft, was auch immer das genau sein mag. Hinweise darauf gibt Beagle durch die Beschreibungen dessen, was sich im Wesen des Einhorns bzw. der Lady Amalthea und in deren Verhalten ändert; z.B. beginnt sie zu weinen und ist fähig, Mitleid zu empfinden, letzteres ist bei Fouqué ein Kriterium für eine vorhandene Seele. Ähnlich wie Undine erhält das Einhorn in Menschengestalt durch die Liebe des Prinzen Lir ein menschentypisches Merkmal und wird so vollends zum Menschen.

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Schmendrick

Wie vielleicht bereits deutlich wurde, spielt der Zauberer Schmendrick nicht nur eine tragende Rolle für den Verlauf der Handlung, er erfüllt vielmehr noch eine andere Funktion, nämlich immer dann, wenn er über die Gesetzmäßigkeiten der Märchen spricht. Schmendrick kennt sich mit diesen Gesetzmäßigkeiten aus, darüber hinaus ist er überzeugt davon, in einem Märchen zu agieren:

Das Einhorn war plötzlich da, wie ein Stern da ist; es ging ihnen ein wenig voran, ein Segel in der Dunkelheit. Molly sagte: "Wenn Lir der Held ist, was ist dann das Einhorn?" "Das ist ganz was anderes! Haggard und Lir und Drinn, du und ich, wir befinden uns in einem Märchen und müssen gehen, wohin es führt. Das Einhorn aber ist Wirklichkeit. Es ist Wirklichkeit."

Wie im vorhergehenden Abschnitt "DAS EINHORN" beschrieben, wird hier das Sterbliche aufgrund seines vergänglichen Charakters mit dem Unwirklichen, also dem "Märchenhaften", gleichgesetzt. Das Unsterbliche aufgrund seiner Unvergänglichkeit ist das Wirkliche. Schmendrick ist auf der Suche nach der wahren Magie, einer Zauberkraft, welche sich nicht wie Mammy Fortunas Betrügereien auf Täuschung berufen. Er gesteht dem Einhorn, dieses sei seine letzte Möglichkeit, diese Zauberkraft zu erlangen. Was meint Schmendrick mit dieser Aussage ? In der Höhle des roten Stiers sagt Lady Amalthea, daß sie nicht wieder in ein Einhorn verwandelt werden, sondern als Mensch mit Prinz Lir zusammen alt werden und sterben möchte. Daß sie einmal ein unsterbliches Einhorn war, hat sie vergessen. Schmendrick jedoch weiß, daß in diesem Fall die verschwundenen Einhörner für immer verschollen blieben, und das letzte Einhorn würde altern und sterben. Es gibt für ihn jedoch noch einen anderen Grund, dem Einhorn wieder die ursprüngliche Gestalt zu verleihen, und dieser Grund steht in Zusammenhang mit seiner Suche nach der wahren Magie. Indem er dem Einhorn einen sterblichen Körper verleiht, bringt er es dazu, Teil des Märchens zu werden, in welchem er selbst, Molly, Prinz Lir usw. sich befinden. Nach Schmendricks Kenntnis über die Gesetze der Märchen muß diese Verwandlung zunächst relevant werden für den Fortgang des Märchens. Dies geschieht, indem Lady Amalthea durch Liebe ein menschentypisches und für das Menschsein zentrales Merkmal erhält, was in Einhorngestalt unmöglich gewesen wäre, da das Einhorn im unsterblichen Körper kein Teil des Märchens ist. So jedoch bekommt die Verwandlung eine Bedeutung, das Einhorn im sterblichen Körper erhält durch Prinz Lirs Liebe eine Seele. Nun wünscht das Einhorn sich natürlich, "glücklich und zufrieden bis an ihr Ende" mit Prinz Lir zusammenleben zu können. Schmendrick aber weiß, daß das unmöglich ist, wie die von ihm erwähnte Geschichte vom Zauberer Nikos und dem Einhorn beweist. Wie gesagt, mit Märchen kennt Schmendrick sich aus, und daher weiß er auch, daß es schief gehen muß, wenn "Mensch und Meerfräulein ein wunderlich Bündnis eingehen", wenn also ein Sterblicher ein übernatürliches Wesen liebt. Aber wieder ist es nicht nur dieser Faktor, welcher ihn dazu bewegt, das Einhorn wieder in seine ursprüngliche Gestalt zu versetzen. Er weiß, wenn er das tut, trägt er dazu bei, daß das Märchen nach gewissen märchentypischen Regeln endet, und genau darin liegt für Schmendrick das Erlangen der wahren Zauberkraft. Um wiederum diesen Gedanken zu verstehen, ist es notwendig, zu überlegen, was das letzte Einhorn bzw. die verschwundenen Einhörner symbolisieren. Das letzte Einhorn ist bei der ersten Begegnung mit dem roten Stier nicht fähig, sich diesem entgegenzustellen. Dies gelingt ihm erst, als Prinz Lir sich für das Einhorn opfert. Nun könnte man denken, daß das Einhorn einfach wütend über den Tod des Geliebten ist, und auf diese Weise die nötige Kraft für die Konfrontation findet. Viel interessanter scheint aber die mögliche Erklärung, daß Prinz Lir dem Einhorn ermöglicht, sich dem roten Stier entgegenzustellen, weil der Prinz nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten gehandelt hat, die Schmendrick als für ein Märchen notwendig erachtet. In "Undine" z. B. muß Ritter Huldbrand mit dem Leben bezahlen, weil er das Wesen, welchem er die Seele verlieh, verstößt. Schmendrick weiß, daß Märchen immer auf bestimmte Art und Weise ausgehen, es ist ein für diese Erzählungen typisches Ende. Genau aus diesem Grund weiß er auch, daß nach der Rückverwandlung kein Zauber, sondern nur Prinz Lir, der Geliebte des Einhorns, dem Märchen zum "ordentlichen" Ende verhelfen kann, wenn er gewisse Regeln befolgt, die eine Märchenerzählung ausmachen. Warum aber findet das Einhorn nun Kraft, dem Stier entgegenzutreten, nachdem Prinz Lir nach den Gesetzen des Mythos handelte ? Offenbar symbolisiert das letzte Einhorn selbst den letzten Mythos oder die letzte Erzählung nach der Art, welche Schmendricks Gesetzmäßigkeiten zugrunde liegen. Die verschwundenen Einhörner stehen für die verlorengegangenen Erzählungen, Mythen oder Märchen. Im Laufe der Erzählung wird immer wieder deutlich, daß die menschlichen Figuren, auf welche Schmendrick und das Einhorn treffen, den Glauben an Einhörner verloren haben. Lieber lassen sie sich mit falschem Zauber täuschen, im letzten Einhorn sehen sie allenfalls eine Stute. Auf die soeben gewonnenen Erkenntnisse übertragen hieße das, die Menschen haben den Glauben an Märchen und Geschichten usw. verloren. Lieber orientieren sie sich auf bequemere Art und Weise, lassen sich von Täuschern wie Mammy Fortuna blenden und erhalten Erklärungen, welchen die Eigenschaften der Märchen fehlen. Zudem sehen sie in echten Geschichten und Märchen, wenn mit solchen konfrontiert, keinen Unterschied mehr zum Betrug Mammy Fortunas. So muß Mammy Fortuna das Einhorn zunächst mit einem Zauber belegen, damit die Menschen in ihm auch ein Einhorn erkennen. Da die Menschen nicht mehr an Einhörner bzw. Mythen glauben und diese nicht mehr erkennen, kann das Einhorn gegen den Roten Stier nichts ausrichten, denn was ist ein "echtes" Märchen, das keiner liest und das keiner als solches erkennt ? Hier tritt Prinz Lir auf den Plan. Während Schmendrick das Märchen durch die Verwandlungen in die Bahnen lenkt, ist es Lir, welcher nach den Gesetzen des Märchens handelt und dem Märchen bzw. dem letzten Einhorn so zur Wirksamkeit bzw. zur Kraft, sich dem Roten Stier entgegenzustellen, verhilft, und zwar, indem er auf das gemeinsame Leben und die gemeinsame Liebe mit dem übernatürlichen Wesen, welchem er die Seele verlieh, verzichtet, indem er im Prinzip Lady Amalthea verstößt, wie z. B. Ritter Huldbrand Undine verstoßen hat. Die wahre Zauberkraft, welche Schmendrick sucht, ist also gleichzusetzen mit der Fähigkeit, "echte" Märchen zu kreieren. "Das ist für einen Magier das Wichtigste: Hören und Sehen." ( S. 211 ), behauptet Schmendrick, passend zu dieser Theorie.

Schmendrick erwähnt im Laufe der Geschichte, der letzte aus "dem Geschlecht der feurigen Swamis" zu sein, einem Zauberergeschlecht. Zudem altere er nicht, bis er die wahre Magie gefunden habe:

"Ich erzähl' dir eine Geschichte", sagte Schmendrick. "Als Junge war ich Lehrling bei dem mächtigsten aller Magier, dem großen Nikos, den ich schon früher erwähnt habe. Aber selbst Nikos, der Katzen in Kühe, Schneeflocken Schneeglöckchen und Einhörner in Menschen verwandeln konnte, vermochte nicht, aus mir auch nur einen Jahrmarktskartenkünstler zu machen. Zu guter Letzt sprach er zu mir: "Mein Sohn, deine Untauglichkeit ist so ungeheuer, deine Talentlosigkeit so tief, daß dir größere Mächte innewohnen müssen , als ich sie je gekannt habe. Leider scheinen diese Kräfte im Augenblick verkehrt zu wirken, und selbst ich weiß keinen Weg, das in Ordnung zu bringen. Du mußt dazu ausersehen sein, deinen eigenen Weg zu finden und dir deiner Macht erst zu einer vorbestimmten Zeit bewußt zu werden. Es mag sehr lange dauern, bis du das erlebst, und deshalb verleihe ich dir die Gabe, vom heutigen Tage an nicht zu altern; du wirst die Welt durchwandern, unwirksam in alle Ewigkeit, bis du endlich dich selber findest und weißt, was du bist. Danke mir nicht, ich erzittere vor deinem Geschick."

Auf den ersten Blick sollte man meinen, es müsse sich genau umgekehrt verhalten, da, wie bereits festgestellt, das Wirkliche bei Beagle mit dem Unsterblichen gleichgesetzt wird, das Künstliche jedoch dem Sterblichen anhaftet. Sollte Schmendrick mit dem Finden der wahren Magie nicht vielmehr Unsterblichkeit erlangen denn Sterblichkeit ? Dieser scheinbare Widerspruch läßt sich aufheben, bedenkt man, daß Schmendrick die wahre Magie schon in sich trägt, sie also schon besitzt. Er weiß sie lediglich nicht einzusetzen. Dies wird immer dann deutlich, wenn der Zauberer erkennt, daß er der Magie nicht seinen Willen aufzwingen, sondern dieser vielmehr freien Lauf lassen muß ( " "Tu, was du willst", flüsterte er dem Zauber zu, "tu, was du willst" "; S. 90 ). Bedingt durch die Tatsache, daß Schmendrick die wahre Magie, das Wirkliche also, welches mit der Unsterblichkeit verbunden ist, im Innern mit sich trägt, ohne diese entfesseln zu können, ist er dazu verdammt, nicht zu altern. Durch die Entfesselung des Mythos, wie zuvor beschrieben, und der Erfüllung der mythischen Gesetze, von Schmendrick in die Bahnen gelenkt, gelingt es diesem, die wahre Magie in sich zu entfesseln, bzw. diese vielmehr aus sich herauszulassen, und so kann er die Sterblichkeit erlangen. Passend zu dieser Theorie sagt Molly im Laufe der Erzählung: " "Du kannst zaubern!" ( ... ) "Mag sein, du kannst diesen Zauber nicht finden, doch er ist vorhanden. Du hast Robin Hood gerufen, obwohl es gar keinen Robin Hood gibt; er ist gekommen und war Wirklichkeit. Und das ist Magie! Du hast alle Macht, die du brauchst, wenn du nur wagst, sie zu suchen." "; ( S. 135 ). Auf gewisse Art und Weise benutzt Schmendrick das Einhorn also zur Verwirklichung seiner eigenen Ziele, und genau das meint er auch, wenn er sich gegen Ende der Erzählung bei dem Einhorn entschuldigt und sogar behauptet, sogar "Mammy Fortuna, König Haggard und der Stier, alle drei haben besser an dir gehandelt als ich." ( S. 266 ). Wieso aber macht Schmendrick sich solche Vorwürfe ? Schließlich ist am Ende der Erzählung zumindest scheinbar alles wieder beim Alten, hat doch das Einhorn seine ursprüngliche Gestalt wiedererlangt und kann in seinen Wald zurückkehren. Doch es sagt auch zu Schmendrick, es sei "nicht mehr wie die anderen, denn keinem Einhorn war es je beschieden, zu bedauern. Aber ich tue es, ich bedaure." ( S. 266 ). Was also ist mit dem Einhorn geschehen ? Wie das Wasserwesen Undine, welches nach dem Verstoß durch den Geliebten zwar in die Wasserwelt zurückkehrt, jedoch die durch ihn verliehene Seele behalten muß, so muß das Einhorn mit der jener für Menschen charakteristischen Eigenschaft oder auch einfach der Erfahrung der Liebe, welche Prinz Lir ihm verlieh, weiterleben, obgleich es die unsterbliche Einhorngestalt wiedergewonnen hat. Schmendrick, der das Einhorn zumindest teilweise aus Eigennutz in einen sterblichen Körper versetzte und es so zum Teil des Märchens machte, trägt also indirekt die Schuld daran, daß dem Einhorn die Seele verliehen wurde, denn wäre dieses nicht in Menschengestalt zum Teil der Geschichte geworden, hätte Prinz Lir sich nicht in Lady Amalthea verlieben und ihr also auch nicht die Seele verleihen können. Prinz Lir trägt insofern weniger Schuld am Geschehenen, da er zu dem Zeitpunkt, als er sich in Lady Amalthea verliebte, nicht aus Eigennutz handelte und ihm zudem nicht bewußt war, daß Lady Amalthea ein Einhorn in Menschengestalt ist. Aus diesem Grund ist Schmendrick der Meinung, er habe von allen Figuren am schlechtesten am Einhorn gehandelt. Alle anderen wollten das Einhorn schlimmstenfalls jagen oder einsperren, er jedoch hat sein Wesen für immer verändert.

zur Inhaltsangabe

Der Rote Stier

Schon im bisherigen Verlauf der Arbeit war desöfteren die Rede vom Roten Stier. Wie bereits erwähnt muß das Einhorn im Laufe der Erzählung zweimal gegen diesen antreten, wobei ihm erst beim zweiten Mal durch die Erfüllung der von Schmendrick eingeführten Gesetze der Märchen durch Prinz Lir der Sieg gelingt. Wenn das Einhorn, wie bereits festgestellt, das letzte "echte" Märchen und die verschwundenen Einhörner die verlorenen Märchen darstellen, für was steht dann der Rote Stier, welcher sie jagte und ins Meer trieb ? Auf seiner Suche nach den verschwundenen Artgenossen hört das letzte Einhorn zum ersten Mal durch den Schmetterling vom Roten Stier. Dieser erzählt dem Einhorn, die anderen Einhörner seien "vor langer Zeit vom Roten Stier davongetrieben worden, er rannte dicht hinter ihnen her und verwischte mit seinen Hufen ihre Spuren."; ( S. 28/29 ). An anderer Stelle erfährt der Leser, daß der Stier nicht kämpft, sondern lediglich unterwirft. Nachdem das Einhorn das erste Mal gegen ihn angetreten ist und kapitulierte, bringt es als Erklärung hervor, der Stier sei "zu stark, viel zu stark. Ohne Anfang und ohne Ende war seine Stärke. Er ist älter als ich."; ( S. 142 ). Bei der zweiten Konfrontation erkennt das Einhorn, daß es den Stier nicht besiegen, im Sinne von töten oder vernichten, kann, es stürzt sich "auf ihn, um ihm den Todesstoß zu versetzen, aber es konnte ihn nicht erreichen. Es war, als stoße es nach einem Schatten oder nach einer Erinnerung."; (S.245). Weiterhin wird der Stier als augenloses Wesen beschrieben, er ist also blind. Was läßt sich aus den hier zusammengestellten Informationen, in Verbindung mit den zuvor erarbeiteten Erkenntnissen, über die Bedeutung der Figur des roten Stiers erschließen ? In seinem Aufsatz "Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos" stellt Fritz Stolz fest, daß unter anderem durch die von der Aufklärung propagierte Weltsicht die traditionellen Mythen wie z.B. religiöse Mythen der Bibel an Bedeutung verlieren, da diese traditionellen Mythen nach Stolz keine expliziten Erklärungen für elementare Probleme des Menschen liefern, sondern auf einer impliziten Ebene ( Tiefenstruktur des Mythos ) Erklärungsansätze bieten. Mit der Aufklärung sei jedoch das Verlangen nach expliziten, konkret faßbaren Lösungen dieser Probleme in den Vordergrund getreten. Stolz zufolge entsteht aus diesem Grund "ein latenter, frei flottierender religiöser Bedarf, welcher gewissermaßen nur auf Formgebungen wartet." In einem solchen Sinne ließe sich vielleicht eine Interpretation auf den roten Stier entwerfen: Wie zuvor festgestellt, sind die Einhörner in Beagles Erzählung die von den Menschen vergessenen Märchen. Da die Einhörner bzw. die durch sie dargestellten Erzählungen oder Wahrheiten verschwunden sind, muß Stolz zufolge bei den Menschen der Erzählung das besagte Erklärungsdefizit bezüglich existentieller Fragen bestehen. Konkret wird das vor allem deutlich, wenn die Menschen aus Beagles Erzählung sich nur allzu bereitwillig von Mammy Fortuna täuschen lassen. Mit falschen Fabeltieren, welche stellvertretend für explizite, bei genauerer Betrachtung jedoch fadenscheinige Lösungsansätze und -theorien stehen, versuchen sie, das durch das Verschwinden der Einhörner entstandene Lücke auszugleichen. Das durch diese Lücke entstandene blinde Verlangen der Menschen nach Orientierung und Erklärungen und Lösungen für die existentiellen Probleme ist bei Beagle verkörpert in Gestalt des roten Stiers. Dieses undifferenzierte, blinde Verlangen nämlich verdrängt in Beagles Verständnis das durch die Einhörner dargestellte Element. An die so entstandene Lücke rücken die vorgetäuschten Fabelwesen aus Mammy Fortunas Mitternachtsmenagerie. Bezieht man diese Überlegung auf einige der oben zusammengestellten Eigenschaften des roten Stiers, so bekräftigt dies die soeben erschlossene Theorie. Die Aussage des Einhorns, welcher zufolge der rote Stier stärker und älter als es selbst sei, läßt sich so erläutern, daß das Verlangen, auf Fragen des Menschen Erklärungen zu finden selbstverständlich älter ist als jede gefundene Erklärung, welche ja nur da entsteht, wo zunächst besagte Fragen und Probleme bestehen. Das Einhorn kann den Stier insofern nicht töten, da es ihn nicht berühren kann, weil dies dem Sinnbild widerspricht.

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König Haggard

Eng in Zusammenhang mit dem Roten Stier, aber auch mit dem Einhorn, steht König Haggard. Im Laufe der Erzählung wird erwähnt, die Augen des Königs seien von der gleichen Farbe wie der Rote Stier ( S. 153 ). Als Haggard die Lady Amalthea und ihre Gefährten auf sein Schloß zugehen sieht, bemerkt er, das Gesicht eines dieser Leute sei wie sein Eigenes:

Er wandte sich von ihnen ab und murmelte: "Das eine Gesicht ist so gut wie ohne Arg, beinahe töricht, doch nicht töricht genug. Das andere Gesicht ist wie mein eigenes, und das bedeutet Gefahr. Das alles habe ich schon am Tor gesehen, warum ließ ich sie nur herein? Mabruk hat recht, ich bin alt geworden, kindisch und leichtsinnig. Und doch, wenn ich in ihre Augen blicke, dann sehe ich nichts als mich selbst."

Später ahnt Lady Amalthea, während sie mit König Haggard redet, "daß sie einander sehr ähnlich seien." ( S. 204 ), ohne daß näher auf diese Ähnlichkeit eingegangen wird. Worin besteht jedoch diese Ähnlichkeit ? Wie im Abschnitt "DAS EINHORN" festgestellt, ist dem naturverbundenen Wesen des unsterblichen Einhorns das Künstliche als ein dem Sterblichen, dem Vergänglichen anhaftendes Attribut entgegengestellt. König Haggards Ritter erwähnen Molly gegenüber, der König lebe nach eigener Aussage ohne Täuschungen. In der Tat findet der König an nichts eine Freude, da er um die Vergänglichkeit der Dinge, welche ihn theoretisch erfreuen könnten, weiß und sich hinsichtlich dieser Vergänglichkeit jegliche Illusionen versagt. Er ist also insofern dem Einhorn ähnlich, da er genau wie dieses bar jeder Täuschung lebt. Daraus ergibt sich jedoch die Frage, warum er mit dieser Einstellung nicht glücklich wird, denn schließlich lebte das Einhorn auch ohne Täuschung und zufrieden in seinem Wald, bevor es sich auf seine Suche begab. Was für eine Funktion erfüllt die von König Haggard abgelehnte Täuschung ? Wie zuvor festgestellt, lassen die Menschen in Beagles Erzählung sich täuschen als Ausgleich für die verschwundenen Einhörner bzw. als Ausgleich für das durch die verschwundene Element entstandene Orientierungsdefizit, um so ( wenn auch falsche ) Antworten auf existentielle, sie bewegende Fragen zu erhalten. Diese Art von Täuschung lehnt König Haggard, wie gesagt, ab. Offenbar liegt es jedoch, nach Beagles Ansicht, in der Natur des Menschen, diese Fragen zu stellen sowie eine Antwort darauf finden zu wollen. Das Einhorn hingegen wird von diesen existentiellen Fragen nicht berührt, da es unsterblich ist und somit kein Teil der Menschenwelt, eben kein Mensch ist. König Haggard jedoch, als sterblicher, beseelter Mensch, wird als solcher automatisch von diesen Fragen und Problemen berührt. Aus diesem Grund läßt er die Einhörner zusammentreiben, in ihnen sieht er das Wirkliche, die täuschungsfreie Antwort, das Unvergängliche, wenn er die Einhörner ansieht, fühlt er sich "wahrlich jung, mir selbst zum Trotz, und alles ist möglich in einer Welt, die solche Schönheit birgt." ( S. 207 ). Dabei stellt der Rote Stier neben dem blinden Verlangen der Menschheit auch König Haggards persönliches Verlangen dar, dieser jedoch besitzt den Stier nicht etwa. König Haggard weiß, der Rote Stier würde sich einen neuen Herrn suchen, verlöre der König das Interesse an den Einhörnern. Dem Stier geht es auch nicht um die Einhörner, was zählt, ist König Haggards Verlangen nach ihnen:

Die Lady Amalthea krampfte ihre Hände um die Brüstung und sehnte ihn [Prinz Lir] herbei, denn der König mußte wahnsinnig sein. Unter ihnen lagen der fahle Strand, die Felsen und die einlaufende Flut, sonst nichts. "Ich sehe ihnen gerne zu. Sie erfüllen mich mit Freude." Die kindische Stimme sang beinahe. "Es kann nichts anderes als Freude sein. Zwei von ihnen standen in den Morgenschatten. Eines trank aus einem Bach, das andere hatte den Kopf auf seinen Rücken gelegt. Ich dachte, ich müsse sterben. Da sagte ich zum Roten Stier: "Das muß mir gehören. Ich muß alles davon besitzen, denn meine Sehnsucht ist groß." Und der Rote Stier hat sie gefangen, eins nach dem andern. Ihm war es gleichgültig, ich hätte genausogut Maikäfer oder Krokodile verlangen können. Er kann nur unterscheiden zwischen dem was ich will, und dem, was ich nicht will."

Was König Haggard also auszeichnet, ist seine grenzenlose Gier, der Wunsch, alle Einhörner zu besitzen. Molly jedoch weiß, "daß es keinem Sterblichen vergönnt ist, alle Einhörner zu sehen". Auf das von Beagle entworfene System von Symbolen übertragen hieße das, daß Haggard versucht, alle durch die Einhörner dargestellten Elemente zu besitzen und zu erschließen, um so Antworten auf restlos alle Ungewißheiten und Fragen der menschlichen Existenz zu erhalten. Daß dieser Plan undurchführbar ist, versteht sich von selbst, denn natürlich kann kein Mensch ein solch allumfassendes Wissen und solch allumfassende Weisheit erlangen.

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Zur Beantwortung der Fragestellung

Aus den vorangegangenen Überlegungen und Feststellungen läßt sich schließen, daß Beagles Werk auf zwei Ebenen funktioniert. Zum einen ist dies die Ebene der Handlung. Hier erzählt Beagle die Geschichte eines Einhorns, welches seine verschwundenen Artgenossen sucht und dabei Hilfe von einem unfähigen Zauberer erhält. Zum anderen gibt es in Beagles Werk noch eine zweite Ebene, welche sich dem Rezipienten beim erstmaligen Lesen des Werkes nicht zwangsläufig erschließt. Auf dieser Ebene findet man den "tieferen Sinn" der Erzählung. Dieser muß zum reinen Verständnis der Handlung jedoch nicht zwangsläufig erschlossen werden, das Werk läßt sich auch ausschließlich auf der Handlungsebene rezipieren, ohne daß dies dem Verständnis dieser Handlung im Großen und Ganzen abträglich wäre. Vielleicht bleibt lediglich das leise Gefühl zurück, daß mehr in Beagles Erzählung steckt, als auf den ersten Blick deutlich wird. In seinem Buch "Metapher, Allegorie, Symbol" macht Gerhard Kurz folgende Aussagen über die Allegorie:

Ein allegorischer Text erlaubt zugleich zwei Deutungen und zwar zwei systematisch an allen relevanten Textelementen durchgeführte Deutungen. In der exegetischen Tradition werden diese beiden Bedeutungen als wörtliche (sensus litteralis, historia, verbum) und als, im engeren Sinn, allegorische Bedeutung (sensus allegoricus, sensus translatus) bezeichnet. Der Begriff "wörtliche Bedeutung" meint die Bedeutung, die ohne weiteres, ohne weiteres Nachdenken verstanden wird. Die wörtliche Bedeutung scheint daher eine von interpretativen Akten unabhängige, festgelegte Bedeutung zu sein und wird meist auch so mißvrstanden (vgl. auch S. 11 f.). In Wahrheit haben wir den Eindruck einer unabhängigen Bedeutung, weil ein interpretativer Akt schon stattgefunden hat, aber so in die Verstehenserwartung eingepaßt ist, daß er nicht als ein solcher erscheint. Es gibt keine vom Verstehen unabhängige Bedeutung. Der Unterschied von "wörtlicher" und "allegorischer" Bedeutung ist also nicht einer zwischen uninterpretierter und interpretierter Bedeutung, sondern der zwischen interpretierter Bedeutung, die als solche nicht mehr, und interpretierter Bedeutung, die als interpretierte bewußt ist.

Zieht man diese Definition der Allegorie heran, so weist die Erzählung "Das letzte Einhorn" tatsächlich allegorische Züge auf: Die Ebene der Handlung wäre der wörtliche Teil der Allegorie, welchen der Leser als solchen auffaßt und als uninterpretierten Teil begreift, nämlich als sensus litteralis. Die über diese Ebene hinausgehenden Interpretationsvarianten und -möglichkeiten, vom Autor offenbar absichtlich vage gehaltenen, wären der bewußt interpretierte Teil der Allegorie, nämlich der sensus allegoricus oder sensus translatus.

Als Hinweis und Deutungshilfe für den sensus allegoricus der Erzählung setzt Beagle eine Romanfigur ein, nämlich den Zauberer Schmendrick. Dieser reflektiert innerhalb der Handlung über die Gesetzmäßigkeiten von Märchen und Mythen und macht diese Gesetzmäßigkeiten für die Geschichte, in welcher er sich zu befinden glaubt, geltend. Schmendricks Andeutungen sind in einem Stil gehalten, welcher dem Rezipienten lediglich Denkanstöße vermittelt. Dieser muß aus diesen Andeutungen die allegorische Ebene selbst erschließen, wobei sich eine ganze Reihe verschiedener Möglichkeiten anbieten.

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Literaturangaben

Beagle, Peter S.: Das letzte Einhorn. Stuttgart: Hobbit Presse/ Klett - Cotta Vierte Auflage 1983
De la Motte Fouqué, F.: Undine. Stuttgart: Philipp Reclam jun. Verlag 1953, 1983
Grant, Michael und Hazel, John: Lexikon der antiken Mythen und Gestalten München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, 14. Auflage März 1999
Kurz, Gerhard: Metapher, Allegorie, Symbol. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, vierte Auflage 1997
Stolz, Fritz: Der mythische Umgang mit der Rationalität und der rationale Umgang mit dem Mythos. In: Schmid, H. H. (Hg.): Mythos und Rationalität Gütersloh 1988

Markus

Soundtrack Das letzte Einhorn - Der Film, der uns alle schon einmal verzaubert hat. Charaktergalerie