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Der Einsiedler "Einhorn" aus Indien

Vor langer Zeit, tief im indischen Dschungel, lebte ein Eremit names Vibhandaka, das Einhorn. Er verbrachte seine Zeit dort völlig allein und seine einzigen Besucher waren die Einwohner eines nahen Dorfes, die gelegentlich mit Speiseopfern für ihren heiligen Mann kamen. Seine wahren Anhänger jedoch waren die Vögel und wilden Tiere, die kamen, um sich im Glanz seiner Gelassenheit zu baden, wenn er mit gekreuzten Beinen in der Öffnung seiner Höhle saß und über die Geheimnisse des Universums meditierte.

Besonders ein Tier, eine weibliche Gazelle, wurde sein ständiger begleiter. Ihre Versessenheit nach ihm wuchs so stark, daß sie nach einiger Zeit auf wundersame Weise trächtig wurde und ein Kind gebar. Der Junge war in jeder Hinsicht menschlich, abgesehen von einem einzelnen Horn, das ihm aus der Mitte seiner Stirn wuchs. Er bekam den Namen Rishyashringa, Gazellenhorn.

Rishyashringa wurde ebenfalls zu einem Eremit und unter der Führung seines Vaters lernte er bald sogar größere Geheimnisse kennen und beherrschen. Die Tiere umschwärmten ihn und er schien fähig mit jedem einzelnen von ihnen in dessen Sprache zu reden. Selbst die Bäume und Blumen neigten sich ihm zu, um zu lauschen. Es wurde gemunkelt, der Himmel und der Regen seien seine Freunde und hielten seine Umgebung immer grün und fruchtbar.

Nun geschah es, daß eine schreckliche Dürre das Land heimsuchte und die Völker glaubten, die Götter wollten ihren Herrscher bestrafen, der teufliche Wege beschritten hatte. Als ihr Raunen die Ohren des Rajahs erreichten, begann dieser um sein Leben zu fürchten und rief seine weisesten Männer zusammen, um diese um Rat zu fragen. Niemand dachte daran, die Regentengewohnheiten zu ändern und Frieden mit dem Himmel zu schließen, doch ein Berater hatte eine Idee. Mit tiefer Verbeugung trat er vor und sagte: "Gefeierter und mächtiger Herr, in einem entfernten Winkel Eures Reiches lebt ein Mann, über den sagt man, er stehe in der Gunst der Götter. Wo er verweilt fällt Regen in Hülle und Fülle und die Erde bringt alle Arten von Früchten hervor. Die Tiere sind wohlgenährt und gepflegt, während sie sonst überall an Durst und Hunger verenden. Wenn es jemanden gibt, der diese Dürre beenden kann, dann dieser Mann. Bringt ihn in das Herz Eures Reiches und ich bin überzeugt unsere Probleme sind gelöst."

So sandte der Rajah einen Boten mit einer Einladung in den Palast zu Rishyashringa. Aber dieser kehrte allein zurück und berichtete, daß der Weise nur ein Lächeln für die Anfrage des Herrschers übrig hatte. Daraufhin schickte der Rajah seine Soldaten, mit dem Auftrag los, den Eremit zur Not mit Gewalt in seinen Palast zu bringen. Doch auch sie kamen unverrichteter Dinge zurück und berichteten, daß sie keine Hand an den Heiligen legen konnten, auch wenn dieser keinen Widerstand geleistet hatte. Entzürnt ließ der Rajah die Soldaten auspeitschen und in den Kerker werfen bevor er seine loyalsten Leibwächter einberief: "Bringt mir diesen Eremit," gab er ihnen den Befehl, "und wenn ihr ebenfalls scheitern solltet, werde ich euch unter den Augen eurer Liebsten von Elefanten zerquetschen lassen."

Doch die Tochter des Rajahs, Shanta, unterbrach ihn: "Vater, laß mich an ihrer Stelle gehen. Ich werde den Eremiten überzeugen zu kommen. Wenn du ihn gegen seinen Willen dazu zwingst wird es nur Unglück über uns alle bringen."

Als er den Sinn von der Rede seiner Tochter fassen konnte, stimmte der Vater zu und nachdem sie Ganesh, dem elefantenköpfigen Gott des Erfolges ein Opfer dargebracht hatten, brach die Prinzessin mit ihrem Gefolge auf.

In einer Sänfte auf dem Rücken ihre Lieblingselefanten ritt Shanta durch die weite, staubige Einöde und sah die Beweise für die Dürre wo immer sie ihren Blick hinschweifen ließ. Ihr Herz blutete ob der Not des Volkes. Ihr Vater hatte nur Angst vor ihren Zorn, doch sie bemitleidete sie und das bestärkte ihren Beschluß alles zu unternehmen, um die Probleme des Königreichs zu beenden.

Nach einiger Zeit kamen die Berge, in denen Rishyashringa lebte näher, grün und üppig, hinter einem breiten, aber schnell schrumpfenden Fluß. Hier ließ Shanta ihr Gefolge in der Ferne zurück und ging allein weiter. Mit einem Seil gesichert überquerte sie das Wasser auf einem Floß. Der Richtung folgend, die ihr genannt worden war, erreichte sie bald eine Höhle, in deren Front der Eremit im Lotussitz saß, in tiefer Meditation versunken. Um ihn waren die verschiedensten Vögel und Wildtiere versammelt und Shanta bemerkte, daß in seiner Gegenwart die Jäger ihre Opfer in Ruhe ließen. Sie sah auch, daß Rishyashringa viel jünger war, als sie erwartet hatte, schön von Aussehen und Gestalt. Selbst das einzelne Horn, daß aus seiner Stirn hervorragte wirkte wie ein Merkmal für Vornehmheit und sie sehnte sich danach, es zu berühren.

Leise angenähert, kniete sie sich vor dem Eremiten nieder und wartete. Es dauerte lange, bis sich seine Augen öffneten, doch als sie es taten lächelte er. In diesem Augenblick verliebte sie sich in ihn und wollte nichts anderes, als den Rest ihres Lebens an seiner Seite zu verbringen. Doch sie hatte nicht ihr Ziel und all die verhungernden Menschen vergessen, an denen sie vorbeigezogen war. Sie dachte auch an den schwachen, alten Rajah, der trotz all seiner Sünden immernoch ihr Vater war und einen Platz in ihrem Herzen hatte. Sie lächelte zurück, nicht wie ein Bittsteller, Anhänger, oder ein verknalltes Mädchen, sondern mit der ganzen Selbstsicherheit einer wunderschönen, jungen Frau.

Der Eremit war geblendet. Nie zuvor hatte er solch ein irdisches Wesen wie sie gesehen oder sich gar in Gedanken vorgestellt. Auf den ersten Blick hielt er sie für einen Engel aus dem Himmel.

"Meister," sagte die Prinzessin, "das Königreich meines Vaters braucht Eure Hilfe." Mit diesen Worten erhob sie sich und ging langsam, mit der Granzie einer Gazelle zurück zum Fluß. Als sie aus seinem Blickfeld verschwand, wußte sich Rishyashringa sich nicht mehr zu helfen. Er stand ebenfalls auf und folgte ihr wie in Trance. Die Abdrücke ihrer Fußspuren bewiesen, daß sie keine Erscheinung gewesen war, aber dennoch folgte er ihr, dürstend einen weiteren Blick auf sie zu werfen.

Ohne einen Blick zurück setzte Shanta ihren Weg durch den Wald hinunter zum Fluß fort. Als sie diesen erreichte, drehte sie sich noch immer nicht um, sondern setzte sich auf das Floß und starrte wie gedankenverloren auf das gegenüberliegende Ufer. Diese Interessenlosigkeit war gänzlich vorgetäuscht, aber Rishyashringa hatte keine Ahnung davon. Als er von seinem Schutz hinter den Bäumen zu ihr schaute, waren ihm ihre Absichten wie ein verschlossenes Buch. Zum ersten Mal in seinem Leben, zitterten sein Herz und seine Lenden vor Verlangen nach einem anderen menschlichen Wesen. Selbsst sein Geist, eigentlich zur Verfolgung höherer Ziele bestimmt, war plötzlich begierig, das Geheimnis der Anziehung dieser Frau zu lösen.

So, als würde sie sich allein wähnen, entkleidete sich Shanta, badete im Fluß und entspannte sich dann auf dem Floß, um in der Sonne zu trocknen. Dort schien sie einzuschlafen. Als sie ihre langwimprigen, mandelförmigen Augen wieder öffnete, sollte sie den Eremit in Verehrung neben sich kniend finden, gerade so, wie sie zuvor bei im gekniet hatte. Mit einem kräftigen Fußtritt stieß sie das Floß vom Ufer ab.

Als die Prinzessin gemeinsam mit Rishyashringa den Rückweg durch das Königreich antrat, versammelten sich über ihren Köpfen die Wolken und der Regen begann zu fallen. Zu dem Zeitpunkt, an dem sie den Palast erreichten, war die Dürre bereits besiegt und sie wurden von einer jubelnden Menge begrüßt.

Sein vorheriges Leben ablegend, heiratete Rishyashringa die Prinzessin und wurde später selbst Herrscher. Doch schon bevor er die Regentschaft übernahm, war sein Einfluß so groß, daß der Rajah den Fehler seiner vorherigen Taten erkannten. Er wurde so freigiebig und gerrecht, daß er bei seinem Tod von seinem Volk weitaus mehr geliebt war, als es ihn vorher gehaßt hatte.

Aus "The Book of the Unicorns" von Nigel Suckling
frei ins Deutsche von Deliah

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